Das AAL-Prinzip in der Lehre! Oder: Wie klitschig muss Hochschullehre sein?
Wer zufälligerweise auch mein Heimatblog media-ocean verfolgt weiß, dass ich in meiner Lehrtätigkeit meine Studierenden Bloggen, Taggen, Social Bookmarken und Wiki-Schreiben lasse. Die Philosophie dahinter: Wer drüber (wissenschaftlich) fundiert reden will, muss an die Front, es selbst (er)leben und nicht nur in (halb)schlaue Bücher gucken. Möglicher Einspruch: Distanz zum Gegenstand geht verloren. Möglicher Widerspruch gegen den Einspruch: Wer den Gegenstand nicht kennt, kann auch keinen Abstand gegenüber “Unbekannt” aufbauen. Nein, Involvement ist gefragt und es geht darum zu erleben…
- … wie es ist, plötzlich Feedback in den Kommentaren des eigenen studentischen Wissenschaftsblogs direkt in den Elfenbeinturm geschickt zu bekommen,
- … wie es ist, zusammen mit 30 Kommilitonen zu den Themen des jeweiligen Seminars Bookmarks zu sammeln, zu taggen und zu ranken,
- … wie es ist, selbst zu erfahren, wie schnell dabei eine für die Gruppe aussagekräftige Tagcloud entsteht,
- … wie es ist, mit kleinem aber kontinuierlichem Arbeitsaufwand das eigene Wissen in einem Wiki für sich und andere zu dokumentieren und dabei zu beobachten, wie sich wie von unsichtbarer Hand, das Wissen aller Seminarteilnehmer im Wiki aggregiert – inklusive Fehlern und Lücken übrigens.
- …usw. usw.
Mit der althergebrachten und klassischen Frontalunterrichtung bzw. den 3-Gruppen-Referate-mit-je-5-Studierenden-pro-Sitzung-Unterrichtsmethoden hat das natürlich (und wie ich aus Erfahrung sagen kann auch zum Glück) nichts mehr zu tun.
Die wöchentlichen Präsenztreffen zwischen dem ganzen virtuellen Content-Jagen und Wissen-Sammeln versetzen Studierende und Lehrende in eine äußerst ungewohnte Situation: Sie haben Zeit zu diskutieren! Kein Absitzen mehr von Seminarsitzungen durch Studierende, die sich vom Frontalschwall des Dozenten berieseln lassen und auch kein Absitzen von Seminarsitzungen mehr durch Lehrende, die die Unterrichtseinheit mit Referaten voll packen und mal eben für 90 Minuten auf “Durchzug” stellen. Okay, das sind zwei Extreme, die aber sicherlich jedem, der jemals an einer Hochschule studiert bzw. gearbeitet hat bekannt sein dürfte.
Diskussionskultur gibt es meiner Erfahrung nach an deutschen Hochschulen nicht (mehr?) in ausreichendem Maße. Die Realität sieht so aus, dass Lehrende überlastet, Seminare mehr als überfüllt und Studierende deswegen auch überfordert sind, unter diesen Bedingungen überhaupt Leistung und Motivation zu entwickeln. Entsprechende Überforderungsbefunde ergeben sich natürlich auch auf Seite der Lehrenden.
Ich behaupte mal, dass das im Zusammenhang mit Web 2.0 bzw. der Ausschlachtung von user-generated Content stehende AAL-Prinzip in der deutschen Hochschullandschaft schon lange (gaaaanz lange) zum Alltag gehört. Das Andere-Arbeiten-Lassen-Denken zeigt sich einerseits darin, Studierende Arbeitsaufträge bekommen, danach einzeln oder in Gruppen vor sich hin werkeln und dabei Berge von DIN-A4-Blättern vollschmieren – sicherlich nicht selten auch mit genialen Gedanken, aber oftmals doch mit sich jährlich wiederholendem Erwart- und Bewertbarem. Andererseits zeigt es sich im Anspruchsdenken der Studierenden, die in Teilen zurecht die Bringschuld beim Lehrenden sehen. Er/Sie hat die Arbeit zu leisten. So funktioniert aber weder Lehren noch Lernen.
Wo bitte bleibt der Flow? Der Lust-Modus des Zusammen-an-einer-Sache-arbeitens? Die Denke des Lehrenden (übertrieben dargestellt) “Du sollst lernen, weil ich es dir sage” bzw. die Denke der Studierenden (ebenfalls übertrieben dargestellt) “Du sollst mir was beibringen, weil ich es von Dir erwarte und es dein Job ist” verhindert den Flow und auch den Spaß am Lehren und Lernen. Aber genau diese beiden Punkte “Flowmodus” und “Spaß dabei” steigern die Chancen auf gelungene bzw. gelingende Seminare um einiges.
Insofern muss Hochschullehre klitschig wie ein Aal sein, aber nicht um Andere-Arbeiten-zu-Lassen, sondern um Alle-Arbeiten-zu-Lassen.
6 Comments Add your own
1. Nils Reiter | February 28th, 2007 at 11:24 am
Das wiki-en, taggen und ranken hat noch einen anderen Vorteil: Man hat auch hinterher noch was davon. Normale Papiere druckt man sich aus, liest sie und vergisst sie.
Tags & co. helfen ja oft auch bei der schnellen Erfassung von Inhalten oder zumindest dem schnellen Erinnern.
2. Steffen Büffel | February 28th, 2007 at 11:30 am
Genau! Was da passiert ist im Prinzip, das Wissen bzw. die Wissensarbeit an einem zentralen Ort nachhaltig zu dokumentieren. Auch unabhängig von dem jeweiligen Seminar können Studierende in der “Folgegeneration” die Wikithemen der Vorgänger wieder aufgreifen, erweitern, verbessern, diskutieren etc.
Natürlich hat die schöne neue Social Software Welt in der Lehre auch ihre problematischen Stellen. Wie beispielsweise bewerte ich die individuelle Leistung bei einem eigentlich auf Kollabroation ausgelegten Projekt. Meine bisherige Lösung: Weblog = Einzelleistung, Wiki = Gruppenleistung, im Prinzip noch ergänzbar durch eine Abschlussklausur. Alles verrechnet ergibt dann die Endnote. Problem: Ist Hölle viel Arbeit ;-)
3. Nils Reiter | February 28th, 2007 at 4:45 pm
Kann man nicht auch klar definierte Teilaufgaben an einzelne Leute vergeben und das Ergebnis davon bewerten?
4. 020200 | February 28th, 2007 at 5:57 pm
Gibt es noch andere Fallsticke ausser der Bewertung? Ich meine, das klingt alles sehr grüngemalt. Wo sind die Schattenseiten?
5. Steffen Büffel | February 28th, 2007 at 6:21 pm
Wo Grün ist gibt es auch rot. Wie bei jeder Ampel! ;-) Ich hab natürlich extra polarisierend geschrieben. Neben der Bewertungsproblematik sehe ich insbesondere die Herausforderung die Studierenden von der ungewohnten Lehr/Lernsituation zu überzeugen. Thema Motivation! Ich setze da meistens zu Beginn ein paar Einstiegshürden, um die Spreu (Leute die den Schein absitzen wollen) vom Weizen (Studis, die wirklich interessiert sind) zu trennen. So wie die Studis danach kontinuierlich Arbeiten, so kontinuierlich muss ich als Seminarleiter auch ein Auge drauf haben und zum beispiel in den Blogs der Strudis mit kommentieren, Feedback zu den Wikiseiten geben etc. Deswegen auch: “ALLE ARBEITEN LASSEN”, including myself. Der Erfolg setzt voraus, dass alle mitziehen, und da kann der Hund begraben sein. Anderer Punkt: Qualität der Wikibeiträge und Qualitätssicherung insgesamt.
6. tina | March 23rd, 2007 at 12:56 am
Nachdem ich mal eine kleine Einführung für den akademischen Gebrauch zusammengestellt habe (siehe: http://www.y-design.de/cms/tguenther.de/wordpress/wp-content/uploads/2007/03/Invitation_academic%20blogging1.pdf)
würde ich gern noch einen anderen Punkt hinzufügen: dass es nämlich für Studierende in den Sozial-, Geistes-, Kultur- und Kommunikationswissenschaften durchaus spannend und lehrreich sein kann, mit Öffentlichkeit konfrontiert zu sein.
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